Suizidprävention: es ist immer besser um das Leben zu kämpfen

Es ist dringend notwendig den Selbstmord zu bekämpfen, Grund für alljährlich weltweit eine Million Todesfälle.

Leila Marco

13.01.2014 | Montag | 17:20 Uhr | Aktualisiert am 22.09. um 16:08 Uhr (Uhrzeit Brasília)

Die geschätzte Zahl von jährlich einer Million Selbstmorden ist, laut Weltgesundheitsorganisation (WHO), äußerst besorgniserregend. Im Durchschnitt geschehen in Brasilien jeden Tag 24 Selbstmorde. Diese Zahl bedeutet auf das ganze Jahr umgerechnet, neuntausend Tote, was eine hohe Zahl darstellt, da beispielsweise aufgrund von Aids etwas über zehntausend Menschen sterben. Dem Bericht „Landkarte der Gewalt 2011“, des Instituts Sagari und des Justizministeriums zufolge, übersteigt die Selbstmordrate bei Jugendlichen in Brasilien bei weitem die der Erwachsenen, im Gegensatz zu dem was in den meisten anderen Ländern geschieht. Im Zeitraum von 1998 bis 2008 stiegen diese Zahlen um 17% an.

Um die Schwere dieses weltweiten Problems aufzuzeigen, im Vergleich zu lokalen Daten, stellte der Psychiater José Manoel Bertolote, Professor der Abteilung für Neurologie, Psychologie und Psychiatrie der Landesuniversität Julio de Mesquita Filho in São Paulo (Unesp) und Berater der WHO, kürzlich einige erläuternde Daten vor. „Die Stadt Botucatu hat heute einhundertdreißigtausend Einwohner. Weltweit stirbt, aufgrund von Selbstmorden,  jedes Jahr die Zahl der Einwohner von ungefähr sechs Städten wie Botucatu“, so zieht er den Vergleich. Man sollte dabei allerdings beachten, dass in diese Aufstellung noch nicht die Zahlen von Selbstmordversuchen mit eingeflossen sind, die, wie beispielsweise in den Vereinigten Staaten, noch um das vierzigfache höher liegen.

Gleichfalls auf Grundlage von Studien der WHO, weist der Spezialist auf eine besorgniserregende Feststellung hin: dass nämlich Jugendliche immer mehr dazu neigen selbstmörderische Tendenzen zu zeigen. Dies würde heute bereits die drittgrößte Todesursache nter ökonomisch aktiven Individuen innerhalb der Altersgruppe von 15 bis 44 Jahren bedeuten, ebenso wie die zweite Hauptursache bei Todesfällen unter Jugendlichen zwischen 15 und 19 Jahren. Ein weiteres Segment das Sorge bereitet, stellt das der Senioren dar, wobei das Anwachsen der Selbstmordraten in direktem Zusammenhang mit Verlassenheit und Einsamkeit steht, in denen viele dieser Menschen leben, die noch dazu durch chronische oder degenerative Krankheiten geschwächt sind.

In seiner Meinung verlangt eine jede Krankheit, die sich in 20 oder 30 Jahren verdoppelt, drastische Maßnahmen der Behörden. „Und genau dies geschieht in Brasilien nicht. Einige Studien zeigen, dass, wenn wir einmal Jugendliche im Alter von 15 bis 25 Jahren als Beispiel nehmen, (wir feststellen würden), dass sich die Anzahl von Selbstmorden in den letzten 20 Jahren weiter erhöht hat. Dies stellt einen brutalen Anstieg der Selbstmordrate unter männlichen Jugendlichen dar“, so kommentiert er.

Als Autor des erst kürzlich erschienenen Buches, Selbstmord und dessen Vorbeuge, das Informationen und Strategien zur Prävention dieses Problems anbietet, zitiert Prof. Dr. Bertolote Studien aus unterschiedlichen Ländern, die auf die allgemein üblichsten Risikofaktoren hinweisen. Hierbei steht, abgesehen vom Alkoholismus und Drogengebrauch, „hinter 90% aller Selbstmordfällen in der westlichen Welt eine Geisteskrankheit (hauptsächlich Depression und Schizophrenie)“.

Hinsichtlich der Faktoren, die ein Risiko aufzeigen, ist es nötig aufmerksam zu sein, um solidarisch Hilfe zu leisten zu können. „Das ist es was wir tun müssen, wir müssen demjenigen, der Zeichen aussendet dass es ihm nicht gut geht, entgegen gehen. Das kann unbequem sein und man könnte fragen: Na, wie geht es? Aber man will es eigentlich gar nicht wirklich wissen, denn es ist ja nur eine Art von Höflichkeit. Manchmal sagt derjenige auch: `Mir geht es super`, von innen aber, da sieht es ganz anders aus… Wenn man aber kommt und sagt: `Schau einmal, ich sehe doch, dass es dir nicht gut geht. Kann ich helfen? Also, vielleicht sollten Sie einmal aus Ihrem Trott herausgehen und mit demjenigen zusammen irgendwohin hingehen, dann könnten Sie so vielleicht ein Leben retten“. 

Leiden
Informationen zu bekommen, das ist nach Meinung von Frau Prof. Dr. Blanca Susana Guevara Werlang, Titularprofessorin der Fakultät für Psychologie an der Päpstlichen Katholischen Universität von Rio Grande do Sul (PUC-RS) und Koordinatorin der Gruppe für Prävention und Intervention für Gewalttätiges Verhalten der PUC in Brasilien, fundamental bei der Suizidprävention. „Die Leute besitzen nicht genügend Informationen und es gibt viele Tabus zu diesem Thema. Zum Beispiel, wenn die Fachleute in der Schule mehr über die Risikofaktoren wüssten, welches die Schutzfaktoren sind und welches Verhalten dies denunzieren könnte. So könnte es auch helfen mit der Familie zu sprechen, den Betreffenden zu einem Psychologen oder Psychiater zu schicken, oder ihn in einen anderen spezifischen Sektor des öffentlichen Gesundheitssystems zu überweisen“, so bestätigte sie.

Frau Prof. Dr. Werlang betont weiterhin, dass die Beobachtung des suizidalen Verhaltens auch bedeutet die Frage des Leidens zu erörtern. „Diese Individuen leiden sehr. Manchmal geht es gar nicht darum sterben zu wollen, sondern einfach nur diesen unerträglichen Schmerz zu beenden.“ Nach Meinung der Spezialistin treten im Verlauf der persönlichen psychischen Entwicklung Fehlentwicklungen auf: „Der Betroffene beginnt psychische Spannungen zu akkumulieren, psychisches Leiden. Wenn diejenige Person noch dazu wenig mit anderen Menschen kommuniziert, wenn sie auch familiäre Probleme hat, keine spirituelle Referenzen besitzt – die wie auch immer geartet sind – und wenn sie nur wenig Freunde hat, dann wird sie letztendlich viel leiden.“

Als eine psychosoziale Störung mit multiplen Ursachen betrachtet, stellt der Suizid einen komplexen Vorgang dar. „Jemand wird keinen Selbstmord begehen, nur weil er eine einfache depressive Störung hat. Es gibt hierbei vielfach soziale, wirtschaftliche, familiäre und spirituelle Gründe. Es ist die Kombination all dieser Elemente, die diese Person dazu führt, sich effektiv psychisch zu desorganisieren und unerträgliches Leiden zu installieren.“

Die Psychologin zeigt sich gleichfalls besorgt über die hohen Zahlen bei dieser Art von Störung in der jüngeren Bevölkerung. Hierbei sieht Frau Prof. Dr. Blanca das Fehlen von Referenzen als einen wichtigen Faktor an. „Man hat den Eindruck, dass die Familie die Verantwortung auf die Schule abschiebt, die Schule wiederum auf die Familie, und auch die Gesellschaft selbst kümmert sich nicht genug darum. Die verantwortlichen Figuren sind äußerst konfus. (…) Heutzutage sind die Werte der Brüderlichkeit, die spirituellen Werte, die Tatsache, dass niemand den anderen verletzen sollte, das Teilen mit dem Nächsten in Vergessenheit geraten. Religiosität stellt einen Schutzfaktor dar, genauso wie ein gutes innerfamiliäres Verhältnis“, so erklärt sie.

Die Auswirkungen auf Familie und Freundeskreis
Der Tod eines Menschen, der sich dazu entschlossen hat sein Leben aufzugeben, wird von Familie und Freunden im Normalfall nur schwer überwunden. Die Journalistin Paula Fontenelle hat diese Realität von nahem erlebt: aufgrund des Selbstmordes ihres Vaters im Jahre 2005. Auf ihrer Suche nach Antworten widmete sie sich drei Jahre lang diesem Thema, studierte verschiedene andere Fälle und sprach mit Psychologen und weiteren Spezialisten. Das Resultat dieser Arbeit findet sich im Buch Selbstmord, die unterbrochene Zukunft – ein Leitfaden für die Überlebenden.

In ihrem Werk bestätigt die Schriftstellerin die Bedeutung, denjenigen Menschen Aufmerksamkeit zu schenken, die denen am nächsten stehen, die diesen Akt der Verzweiflung begangen haben und auch von der Notwendigkeit das Schweigen, das sie umgibt, zu brechen. „In der dies betreffenden Literatur werden diejenigen als Überlebende bezeichnet, die jemanden durch Suizid verloren haben, denn dies sind Individuen, die hiermit bis an das Ende ihres Lebens leben, und den Schmerz dieses Verlustes überleben müssen, der ja einen besonderen Schmerz darstellt… Denn, wenn man jemanden wegen eines Unfalls, einer Krankheit oder aufgrund natürlicher Ursachen verliert, dann kann man mit aller Welt darüber sprechen und alle wollen auch wissen wie dies geschehen konnte. Es ist Teil der Trauerarbeit darüber zu reden. Wenn es sich aber um Selbstmord handelt, da fragt niemand und niemand will davon hören. (…) Ich erinnere mich gut daran, denn meine Familie hat dies selbst durchmachen müssen.“

Die Journalistin ist ebenfalls der Meinung, dass, auf eine gewisse Weise, die Aggression dieser Tat auf die, die am nächsten stehen, reflektiert. „Wenn jemand stirbt, so ist es normal dass man einen Schrecken bekommt, man glaubt nicht, dass dieser Jemand dies tun konnte. Danach fängt man an sich selbst die Schuld zu geben: `Wieso habe ich das auch nicht bemerken können? Das Gefühl von Schuld ist normal, ebenso wie der Zorn… Wie konnte er mir das nur antun? Das war unverantwortlich. Wie kann man so etwas dem eigenen Kind nur antun?“

Mit einer Warnung zeigt das Buch die prinzipiellen Zeichen für ein suizidales Verhalten auf, um bei dessen Bekämpfung mithelfen zu können. „Der Glaube ist äußerst wichtig, er ist einer der entscheidenden Faktoren, an den sich einige Personen anlehnen können. Der Glaube an Gott, an ein Höheres Wesen, unabhängig von der Religion, der man zugehörig ist, stellt eine Stütze dar, ähnlich der Hand, die einem von einem anderen Menschen ausgestreckt wird. Glaube heißt an die Zukunft zu glauben, und immer daran zu glauben, dass dies (der Schmerz, das Leiden…) vorüber gehen wird.“

Für den Fall, dass sich bei einem geliebten Menschen diese Zeichen manifestieren, so empfiehlt sie zuallererst einen Kommunikationskanal zu öffnen und ihm Aufmerksamkeit zu schenken; später dann sollte man versuchen ihn zu verstehen und ihm helfen sich alles von der Seele zu reden. „Etwas weiterhin Wichtiges, das die Ärzte gleichfalls immer betonen, ist es zu versuchen, eine Art Pakt mit der betroffenen Person zu schließen: ‚Schau einmal, gib mir einen Monat Zeit und dann sehen wir ob es dir danach besser geht, oder nicht. Nur darum bitte ich dich.‘ Ich habe dies so mit einer Freundin gemacht… ich habe sie auch zu einem Psychiater gebracht und sie ist noch bis heute am Leben.“

Die Kraft des Gebets
Religiosität stellt für diejenigen, die an dieser Krankheit leiden, ein wertvoller Verbündeter bei der Wiedererlangung des Selbstwertgefühls und des Willens zu leben dar. Abgesehen vom Akt des Betens und der Meditation in sich, die bewiesenermaßen in der Lage sind zum Gleichgewicht von Körper und Seele beitragen zu können, stellt allein die Tatsache einer religiösen Gemeinschaft anzugehören bereits eine äußerst hilfreiche soziale Stütze in den Augenblicken intensiven Leidens dar.

Der Vorsitzende und Prediger der Religion Gottes, Christi und des Heiligen Geistes, Paiva Netto, bestätigt es für gewöhnlich, dass er, in den Stunden der Not, wenn es scheint keinen Ausweg mehr in bestimmten Situationen zu geben, sich dem Gebet zuwendet und hierbei die Kraft findet die Schwierigkeiten überwinden zu können. In seinem Artikel „Auch ein Atheist kann beten“, zeigt er, dass: „Das Gebet kein Zufluchtsort ist, weder für Feiglinge noch für Faule. Es erhebt uns und die Arbeit erfüllt uns“. Der Papst betet, der Dalai-Lama meditiert, Chico Xavier sprach seine Gebete, die Rabbiner stimmen ihr Flehen an, die Evangelikalen singen ihre Lobpreisungen zu Gott, die Muslime rezitieren den Heiligen Koran… Was ist das Gebet, wenn nicht die Liebe, die sich vor großen Taten auftut? Ein atheistischer Bruder, wenn dieser etwas tut, was der Gemeinschaft zugutekommt, dann betet er. Beten ist nicht nur etwas Figuratives. Es ist das stärkste Instrument, das die menschliche Essenz, das Göttliche Kapital, besitzt. Wie schon der deutsche Mönch, Thomas von Kempen (1380-1471) in der Nachfolge Christi schrieb: ‚Vortrefflich ist die Kunst mit Gott zu reden‘“.   

Übersetzung: Thomas Hempfing